Mikrokredite werden weltweit in Schwellen- und Entwicklungsländern vergeben. / Foto: Fotolia, Kate Shephard

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Mikrokredite – Armutsfalle oder Rettungsanker?

Mikrofinanzfonds gelten als Geldanlagen mit besonders hoher nachhaltiger Wirkung. Ein Pressebericht stellt nun das gesamte Mikrofinanzsystem in Frage – und damit auch die Investments vieler privater Anlegerinnen und Anleger. ECOreporter hat vier Mikrofinanzanbieter dazu befragt.

Die Vorwürfe wiegen schwer: Mikrokredite würden „weder Armut bekämpfen noch Frauen emanzipieren“. Oft bewirkten sie sogar das Gegenteil. So steht es unter Berufung auf wissenschaftliche Studien in einem Artikel der christlichen Zeitschrift „Publik-Forum“ (Ausgabe 24/2022). Kleinkredite trieben viele Kundinnen und Kunden in die Überschuldung, sie seien eine „Armutsfalle“.

Der Autor des Artikels kritisiert unter anderem die hohen Mikrokreditzinsen von durchschnittlich mehr als 20 Prozent und nennt als besonders negatives Beispiel das Mikrofinanzsystem in Kambodscha. Dort müssten Kreditnehmer Haus und Hof verkaufen und ihre Kinder arbeiten lassen, um ihre Schulden abbezahlen zu können. In den letzten fünf Jahren hätten mehr als 167.000 Haushalte wegen Mikrokrediten Land verkaufen müssen. Zwischen einem Viertel und der Hälfte der Kreditnehmer seien überschuldet oder von Überschuldung bedroht. Eine in dem Artikel genannte Forderung: Deutsche Mikrofinanzanbieter sollten nicht mehr in Kambodscha investieren.

Westliches Geld für den globalen Süden

Mikrofinanzierungen funktionieren folgendermaßen: Lokale Mikrofinanzbanken in Schwellen- und Entwicklungsländern vergeben Kleinkredite an Menschen, die sich damit ein Geschäft aufbauen, etwa indem sie Ackerwerkzeuge und Saatgut kaufen. Einen Teil dieses Geldes leihen sich die Mikrofinanzinstitute bei im besten Falle nachhaltigen Investoren aus Industrienationen.

Der Artikel im „Publik-Forum“ nennt einige dieser Investoren, die mit kambodschanischen Mikrofinanzbanken zusammenarbeiten. ECOreporter hat vier von ihnen um Stellungnahmen zu den Vorwürfen gebeten: die internationale Entwicklungsgenossenschaft Oikocredit, den Mikrofinanzfonds-Anbieter Invest in Visions aus Frankfurt, die Bank im Bistum Essen (BIB) und GLS Investments, die Fondstochter der Bochumer GLS Bank.

Keines der vier Unternehmen streitet ab, dass es in Kambodschas Mikrofinanzsektor Probleme gibt, weil der dortige Markt für Mikrokredite gesättigt ist und Kredite teilweise mit unlauteren Methoden vertrieben wurden. Richtig ist nach Angaben der BIB auch, dass ein starker positiver Effekt von Mikrokrediten auf die Bekämpfung von Armut und die Emanzipation von Frauen bislang nicht eindeutig wissenschaftlich belegt werden konnte. Allerdings hätten in einer großen Umfrage der internationalen Research-Agentur 60 Decibels 88 Prozent der Kreditnehmer angegeben, dass sich ihre Lebensqualität durch Mikrokredite spürbar bis sehr stark verbessert habe.

Invest in Visions nennt eine Studie des Duisburger Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF), in der mehr als 82 Prozent der Kreditkunden in Kambodscha ihre Kredite als positiv bewerteten und 95 Prozent die Kommunikation mit ihren Mikrofinanzbanken als respektvoll bezeichneten. Laut INEF fordert derzeit kaum ein relevanter Akteur eine grundsätzliche Einstellung der Mikrokredite in Kambodscha.


Die meisten Kundinnen und Kunden sind mit ihren Mikrokrediten zufrieden. / Foto: Fotolia, Patryk Doering

Der Artikel im „Publik-Forum“ bezieht sich auf die gleiche INEF-Studie, erwähnt diese Umfrageergebnisse und Einschätzungen allerdings nicht. Auch in anderen Punkten bemängeln die Mikrofinanzanbieter, dass Studienergebnisse einseitig wiedergegeben worden seien. Nach Aussage von Oikocredit hätten neue INEF-Untersuchungen ergeben, dass in Kambodscha nur sehr selten Grundstücke verkauft würden, um Kreditschulden zu begleichen. Invest In Visions bezeichnet die in dem Presseartikel genannte Zahl von 167.000 Landverkäufen als „methodisch zweifelhafte Hochrechnung“ einer INEF-Stichprobe.

Nicht jede Mikrofinanzbank ist tatsächlich nachhaltig

Die BIB betont, dass sich in Kambodscha in den letzten Jahren ein System aus „sehr professionell aufgestellten Mikrofinanzinstitutionen“ entwickelt habe. Auch kleine Unternehmen hätten mittlerweile ausreichend Zugang zu Finanzdienstleistungen. Zudem gebe es grüne Kredite, um die Energieeffizienz voranzutreiben.

Die christliche Bank aus Essen, die seit über 15 Jahren Geld an Mikrofinanzbanken verleiht, hat allerdings in den letzten sieben Jahren den Anteil an Kambodscha-Investments in ihrem KCD-Mikrofinanzfonds III von etwa 14 auf knapp 3 Prozent reduziert. Mit einigen Instituten vor Ort arbeite man nicht mehr zusammen, da man „von deren sozialer Ausrichtung und den Maßnahmen zum Kundenschutz nicht mehr überzeugt“ sei. Andere Institute in Kambodscha möchte man hingegen auch weiterhin unterstützen. Man sehe es als wichtig an, dass sich internationale Mikrofinanzinvestoren nicht vollständig aus dem Land zurückziehen, sondern positiv auf Veränderungen drängen. Dass es mittlerweile eine erste Kreditauskunftei in Kambodscha gebe, sei ein Schritt in die richtige Richtung, um Überschuldung zu bekämpfen.

GLS Investments teilte ECOreporter mit, man arbeite nur noch mit einem Mikrofinanzinstitut in Kambodscha zusammen und plane aktuell keine weiteren Investitionen in dem Land, stehe aber weiterhin mit lokalen Nichtregierungsorganisationen in Kontakt.

Oikocredit hat derzeit eigenen Angaben zufolge Geld an neun von 84 kambodschanischen Mikrofinanzbanken verliehen. Alle Partner müssten sich an „strenge Sorgfalts- und Überwachungsstandards“ halten. Endkunden würden nur Kredite erhalten, wenn die zu erwartenden Einnahmen ausreichten, um die Schulden zurückzuzahlen. Zudem engagiere sich Oikocredit vor Ort in Initiativen zur Verbesserung von Kreditvergabepraktiken und finanzieller Allgemeinbildung. Mikrokredite seien kein Allheilmittel und könnten weder öffentliche Sozialleistungen ersetzen noch im Alleingang Armut beenden. Eingebettet in eine nachhaltige Entwicklungsstrategie seien sie aber ein wirksames Instrument zur finanziellen Eingliederung wirtschaftlich benachteiligter Menschen.

Auch Invest In Visions ist weiterhin in Kambodscha investiert: „Wir halten es für grundsätzlich widersinnig, dass gerade diejenigen Investor:innen, die nachweislich den höchsten Anspruch an Kundenschutz haben, den Markt verlassen und dadurch Platz für Investor:innen machen sollen, die derartige Ansprüche nicht haben, sondern rein profitorientiert agieren.“


Viele arme Menschen können sich nur über Mikrokredite zu vertretbaren Konditionen das Startkapital für ein Kleingewerbe besorgen. / Foto: Fotolia, sumnersgraphics

20 Prozent Zins – oder 200?

Und die hohen Zinsen der Mikrokredite? In Deutschland wären 20 Prozent oder mehr Wucher, in Schwellen- und Entwicklungsländern ist die Kostenstruktur der Banken jedoch eine ganz andere. „Mikrofinanz erfordert eine enge Begleitung der Kundinnen und Kunden“, erläutert die BIB. „Diese Menschen haben meist keine verlässliche Buchhaltung. Eine Kundin wird daher in ihrem Zuhause und in ihrem Geschäft besucht, Inventar wird aufgenommen, anhand von Rechnungen oder Lieferscheinen ihre Angaben plausibilisiert. Referenzen der Kundin werden angerufen und die Kreditauskunftei abgefragt, um sicherzugehen, dass die Kundenangaben korrekt sind. Trotz kleiner Kreditbeträge muss nämlich sichergestellt werden, dass die Kundin ihren Kredit zurückzahlen kann und dass die Kreditvergabe sie nicht überschuldet.“

Außerdem besuchten Bankmitarbeiter ihre Kundinnen und Kunden regelmäßig, um sicherzustellen, dass das verliehene Geld wie vereinbart eingesetzt wird. Daher sei es deutlich teurer, an 1.000 Kunden jeweils einen Kredit von 1.000 Dollar zu vergeben, als einen einzelnen Kredit über 1 Million Dollar. Doch trotz der Zinslast würden sich die Kredite für die Kunden rechnen: Die Profitmargen ihrer kleinen Unternehmen seien sehr hoch.

Die Zinsobergrenze von 18 Prozent, die mittlerweile in Kambodscha eingeführt wurde, sieht die BIB kritisch: Mikrofinanzinstitute würden keine sehr kleinen Kredite mehr vergeben, weil diese sich für sie nicht länger rechneten. Die ärmsten Menschen seien wieder wie früher vom Finanzsystem ausgeschlossen und würden sich an private Geldverleiher wenden. Deren Zinsen lägen aufs Jahr gerechnet oft bei mehreren hundert Prozent. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Analyse des INEF.

ECOreporter-Einschätzung:

ECOreporter hat die Mikrofinanzfonds von Invest In Visions, BIB und GLS Investments in den letzten Jahren mehrfach getestet und für sehr nachhaltig befunden. Die Redaktion steht in Kontakt mit den Anbietern und tauscht sich mit ihnen regelmäßig zu Entwicklungen im Mikrofinanzbereich aus – auch zu Nachhaltigkeitsproblemen.

Einiges an der Kritik in dem „Publik-Forum“-Artikel ist nachvollziehbar. Allerdings überwiegen für ECOreporter bei weitem die positiven Effekte von Mikrokrediten. Diese Einschätzung stützen auch wissenschaftliche Studien, aus denen das „Publik-Forum“ zitiert. Wenn Probleme auftauchen, dann häufig wegen unseriöser Geldverleiher, die vom Mikrofinanz-Boom profitieren wollen – und nicht weil das Mikrofinanzsystem grundsätzlich nicht funktioniert.

ECOreporter stuft daher Mikrofinanzfonds wirklich nachhaltiger Anbieter weiterhin als Finanzprodukte mit besonders hoher sozialer Wirkung ein. Die weitere Entwicklung in Kambodscha wird die Redaktion kritisch verfolgen.

Vier sehr nachhaltige Mikrofinanzfonds hat ECOreporter hier eingehend analysiert.

Mehr zum Thema Mikrofinanz können Sie hier lesen.

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